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Craniomandibulären Dysfunktion (CMD) für Ärzte


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
herzlich willkommen zu dieser Fortbildung über Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD). CMD ist ein Sammelbegriff, der verschiedene Schmerz- und Funktionsstörungen des Kausystems umfasst. Dabei geht es nicht nur um die Kiefergelenke, sondern um ein komplexes Zusammenspiel von Muskulatur, Gelenken, Okklusion und oft auch um psychosoziale Faktoren.

Im Folgenden möchte ich Ihnen einen detaillierten Überblick geben, der sich an den aktuellen Leitlinien und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und praxisrelevante Aspekte für die Diagnostik und Therapie beleuchtet.

Definition und Klassifikation


Eine Lupe betrachtet ein offenes Buch.

Begriffsbestimmung

Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet ein multifaktorielles Krankheitsbild, bei dem Funktionsstörungen in den Kiefergelenken, der Kaumuskulatur, der Okklusion (Zahnkontakt) sowie in der Kieferrelation und der neuromuskulären Steuerung auftreten.

Im englischsprachigen Raum ist am häufigsten der Begriff TMD (Temporomandibular Disorders) gebräuchlich.

Ein Paar Zähne mit einer Zahnspange.

Epidemiologie

In der Gesamtbevölkerung weisen ca. 6–12 % klinisch relevante CMD/TMD-Symptome auf.

Die Prävalenz ist in der Regel bei Frauen höher als bei Männern, insbesondere im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.

Ein Teil der Patienten zeigt nur leichte oder vorübergehende Symptome; bei anderen kann es zu chronischen Verläufen mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensqualität kommen.

Ein Klemmbrett mit einem Bleistift und einem Kreuz darauf.

Klassifikation (nach DC/TMD)

Die Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD) stellen eine international anerkannte Klassifikation für TMD dar. Sie unterteilen TMD in zwei Hauptgruppen:

- Schmerzen in der Kaumuskulatur (Myogene Störungen)

Myofasziale Schmerzen mit oder ohne Einschränkung der Unterkieferbeweglichkeit

- Gelenkerkrankungen (Arthrogene Störungen)

Diskusverlagerungen (mit Reposition, ohne Reposition), Arthralgien, Arthritis, Arthrose

Innerhalb dieser Hauptgruppen werden Unterformen definiert, um eine exakte Diagnose zu ermöglichen.

Anatomische und pathophysiologische Grundlagen


Ein Computermonitor mit der Röntgenaufnahme eines Skeletts darauf.

Anatomische Strukturen

Kiefergelenk (Articulatio temporomandibularis): Besteht aus dem Kondylus des Unterkiefers (Mandibula) und der Fossa mandibularis im Schläfenbein (Os temporale). Dazwischen liegt ein Diskus aus Faserknorpel, der das Gelenk unterteilt und als Stoßdämpfer fungiert.

Kaumuskulatur: Zu den wichtigsten Muskeln zählen der M. masseter, M. temporalis, M. pterygoideus lateralis und medialis.

Okklusion: Die Stellung der Zähne und die Bisslage (Interkuspidation) beeinflussen die Lage des Kondylus im Kiefergelenk und damit die Gelenkbelastung.

Ein Klemmbrett mit einem Bleistift und einem Kreuz darauf.

Biomechanik

Das Kiefergelenk ist ein Doppelgelenk (Ginglymoarthrodialgelenk): Es ermöglicht sowohl eine Rotations- als auch eine Translationsbewegung des Kondylus.

Bei normaler Funktion gleitet der Diskus zusammen mit dem Kondylus in der Eminentia articularis.

Bei Fehlbelastungen kann es zu Diskusverlagerungen, Knorpelschäden oder arthrotischen Veränderungen kommen.

Eine Lupe betrachtet ein offenes Buch.

Pathophysiologie

Die Entstehung von CMD ist multifaktoriell bedingt. Häufiges Zusammenspiel aus:

  • Okklusalen Faktoren (Fehlbiss, High Spots, fehlende Zähne)
  • Muskelverspannungen (z. B. durch Stress, nächtliches Zähnepressen/-knirschen = Bruxismus)
  • Gelenkpathologien (Diskusverlagerung, arthrotische Veränderungen, posttraumatische Schäden)
  • Psychosozialen Faktoren (Stress, Angststörungen, Depression, Schmerzverarbeitungsstörungen)
  • Systemischen Faktoren (Rheuma, Fibromyalgie, hormonelle Einflüsse, Migräne)

Klinische Symptomatik


Eine Strichzeichnung von drei Zahnsymbolen auf einem weißen Hintergrund.

Kiefergelenksschmerzen:

Lokalisiert präaurikulär, können in Schläfe, Ohr, Hals, Hinterkopf oder Zahnreihen ausstrahlen.

Eine Hand berührt die Stirn einer Person.

Muskelbeschwerden:

- Schmerzhafte Verspannungen, vor allem im M. masseter und M. temporalis.

- Triggerpunkte in der Kaumuskulatur sind häufig palpierbar.

Ein Mann spricht mit zwei Personen mit einem Häkchen in einer Sprechblase.

Kiefergelenksgeräusche (Knacken, Reiben):

- Treten beim Öffnen oder Schließen des Mundes auf.

- Hinweis auf Diskusverlagerung oder strukturelle Veränderungen im Gelenk.

Eine Schwarzweißzeichnung einer Person mit nach oben und unten zeigenden Pfeilen.

Eingeschränkte Mundöffnung / Kieferklemme (Trismus):

Mit oder ohne Schmerz

Ein Mann spricht mit zwei Personen mit einem Häkchen in einer Sprechblase.

Kopfschmerzen, Gesichts- und Nackenschmerzen

- Spannungs- oder migräneartige Kopfschmerzen sind nicht selten.

- Tinnitus, Schwindel oder Ohrenschmerzen können als Begleitsymptom auftreten (via trigeminaler und otologischer Verschaltungen).

Der Kopf einer Person mit einer Uhr in der Mitte.

Okklusale Probleme:

Subjektives Gefühl, dass die Zähne „nicht mehr richtig aufeinandertreffen“.

Differenzialdiagnostische Abgrenzung

Differenzial-diagnostische Abgrenzung


Da CMD ein Überlappungsgebiet zu anderen medizinischen Fachdisziplinen ist, ist eine gründliche Differenzialdiagnose entscheidend:

Eine Schwarzweißzeichnung eines Mundes mit einer Lupe.

Zahnärztlich:

Pulpitiden, Parodontitis, kieferorthopädische Fehlstellungen.

Eine Strichzeichnung des Kopfes einer Person, aus dem ein Blitz herauskommt.

Hals-Nasen-Ohren-Bereich:

Otitis media, Tinnitus anderer Genese, Tonsillitis, Speicheldrüsenerkrankungen

Eine Schwarzweißzeichnung eines Zahnpaars mit einem x in der Mitte.

Neurologisch:

Trigeminusneuralgie, Migräne, Clusterkopfschmerz.

Eine Schwarzweißzeichnung einer liegenden Person mit nach oben zeigenden Pfeilen.

Orthopädisch:

Zervikale Syndrom, Bandscheibenprobleme (HWS), Schultergelenksstörungen

Eine Strichzeichnung des Kopfes einer Person, aus dem ein Blitz herauskommt.

Rheumatologisch:

Rheumatoide Arthritis, Polymyalgia rheumatica, Fibromyalgie.

Diagnostik


Anamnese

Ausführliche Erhebung der Schmerzcharakteristika (Lokalisation, Intensität, Dauer, Ausstrahlung, Einflussfaktoren).

Abfragen von Bruxismus (Knirschen oder Pressen), Stressoren, psychosozialer Belastung.

Vorerkrankungen, zahnärztliche oder kieferorthopädische Vorbehandlungen.

Klinische Funktionsuntersuchung

Inspektion: Kiefergelenksregion, Mundöffnung, Gesichtsasymmetrien.

Palpation: Kiefergelenk (präaurikulär), Kaumuskulatur (M. masseter, M. temporalis, M. pterygoideus).

Kiefergelenksgeräusche (Auskultation / Palpation bei Mundöffnung).

Mundöffnung: Ausmaß (in mm), seitliche Abweichungen.

Okklusionsanalyse: Bissregistrierung, Lagebeziehungen.

Instrumentelle Funktionsdiagnostik

Bildgebende Verfahren:
  • Orthopantomogramm (OPT): zur Übersicht über Zähne, Kieferknochen, Kiefergelenke.
  • MRT: Beurteilung des Diskus und der Weichteilstrukturen (Diskusverlagerungen, entzündliche Veränderungen).
  • DVT (Digitale Volumentomografie): Dreidimensionale Darstellung knöcherner Strukturen.
Instrumentelle Verfahren:
  • Elektronische Aufzeichnung der Unterkieferbewegung (Cadiax®, ARCUS®-Digma, etc.).
  • Oberflächen-EMG zur Aktivitätsmessung der Kaumuskulatur.

Psychometrische Tests

Bei Verdacht auf psychosoziale Beteiligung (Stress, Depression, Angststörungen) können standardisierte Fragebögen (z. B. Depressionsfragebogen, Graded Chronic Pain Scale) eingesetzt werden.

Therapieansätze


Die Behandlung von CMD ist interdisziplinär und sollte sich individuell an den Ätiologiefaktoren und der Symptomatik der Patienten orientieren. Häufig wird eine kombinierte Therapie aus mehreren Modulen eingesetzt.

Eine Strichzeichnung des Mundes einer Person mit einer Lupe.

Reversible zahnärztliche Maßnahmen

Aufbissschienen

- Okklusionsschienen (Michigan-Schiene, Relaxierungsschiene) werden v. a. nachts getragen.

- Ziel: Entlastung von Gelenken und Kaumuskulatur, Reduktion von Parafunktionen (Knirschen/Pressen).

Okklusale Adjustierung

- Minimales Einschleifen überstehender Füllungen oder Kronen, falls hier objektiv eine Fehlbelastung nachgewiesen wurde.

- Immer sehr vorsichtig und konservativ vorgehen.

Kieferorthopädische Behandlungen

- Bei relevanten Biss- und Kieferfehlstellungen kann eine kieferorthopädische Therapie sinnvoll sein.

- Grundsatz: Zunächst möglichst reversible Maßnahmen (Schienentherapie) durchführen, bevor definitive Veränderungen umgesetzt werden.

Eine Strichzeichnung des Mundes einer Person mit einer Lupe.

Physiotherapeutische & manualmedizinische Therapie

Manuelle Therapie

- Gelenkmobilisationen, Traktionen, Weichteiltechniken.

- Mobilisation der HWS, BWS und Kiefergelenke im Zusammenspiel.

Physiotherapie

- Kräftigungs- und Dehnungsübungen der Kaumuskulatur.

- Haltungs- und Koordinationsschulung (v. a. Kopf- und Schulterbereich).

Übungen zur Eigenmobilisation

- Patienten erhalten Anleitungen für Entspannungs- und Dehnübungen (z. B. kontrollierte Mundöffnungsübungen).

Eine Strichzeichnung des Mundes einer Person mit einer Lupe.

Psychosoziale und verhaltensmedizinische Ansätze

Stressmanagement

- Coaching, kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungsverfahren (PMR, Autogenes Training, Biofeedback).

Schlafhygiene

- Bei Bruxismus können Verbesserung der Schlafhygiene und schlaffördernde Maßnahmen unterstützend wirken.

Psychotherapie

Bei persistierenden Schmerzen oder chronischen Verläufen mit psychischer Komorbidität ist eine psychotherapeutische Mitbetreuung wichtig.

Eine Schwarzweißzeichnung von zwei Pillen auf weißem Hintergrund.

Medikamentöse Therapie

Analgetika

NSAR (z. B. Ibuprofen, Naproxen) oder Paracetamol bei akuten Schmerzen.

Bei chronischen Schmerzen differenzierter Einsatz (ggf. Koanalgetika).

Muskelrelaxantien

In bestimmten Fällen kurzzeitig (z. B. Tetrazepam in Ländern, wo es noch zugelassen ist, Baclofen oder Tizanidin), jedoch wegen Nebenwirkungen nur zeitlich begrenzt.

Botulinumtoxin-Injektionen

Bei therapierefraktärem myofaszialen Schmerz und massivem Bruxismus können Injektionen in die Kaumuskulatur diskutiert werden (Off-Label-Anwendung).

Eine schwarz-weiße Zeichnung eines Totenkopfes mit Zahnspange.

Interventionelle Verfahren

Intraartikuläre Injektionen (Corticosteroide, Hyaluronsäure)

- Bei aktiven arthritischen Prozessen oder Arthrosebeschwerden.

Arthrozentese / Arthroskopie

Minimalinvasive Verfahren zur Spülung des Kiefergelenks oder zur chirurgischen Intervention, wenn konservative Maßnahmen versagen.

Prognose und Verlauf


Die meisten Patienten profitieren von konservativen Therapien, insbesondere der Schienentherapie und Physiotherapie, kombiniert mit Stressmanagement

Eine frühzeitige Diagnose und Therapie verbessern die Prognose und reduzieren das Risiko für Chronifizierung.

Chronische Fälle erfordern häufig ein konsequentes, interdisziplinäres Management.

Rückfälle können auftreten, insbesondere bei erneuter psychosozialer Belastung oder unterlassener kontinuierlicher Betreuung.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit


CMD-Patienten benötigen oft ein Team aus verschiedenen Fachdisziplinen, um eine ganzheitliche und nachhaltige Versorgung sicherzustellen:

Zahnärzte / Kieferorthopäden
(Funktionsdiagnostik, Schienen, Okklusionskorrektur)

Physiotherapeuten / Osteopathen
(Manuelle Therapie, Haltungsschulung)

Orthopäden
(HWS-/BWS-Befund, Skoliose, Beinlängendifferenzen etc.)

HNO-Ärzte
(Differenzialdiagnose Ohrbeschwerden, Tinnitus)

Neurologen / Schmerztherapeuten
(Chronische Schmerzen, Kopfschmerz, Trigeminusneuralgie)

Psychologen / Psychotherapeuten
(Schmerzverarbeitung, Stressreduktion, Verhaltensmodifikation)

Praktische Tipps für die ärztliche Praxis


Frühe Abklärung bei craniomandibulären Beschwerden oder unspezifischen Kopf-/Nackenschmerzen, die auf CMD hinweisen könnten.

Ganzheitliche Betrachtung: Auch orthopädische und psychosoziale Faktoren erfragen und untersuchen.

Hohes Maß an Patientenedukation: Erläutern, dass Stress und Parafunktionen (Knirschen, Pressen) einen wesentlichen Einfluss haben.

Schiene vs. Einschleifen: Zunächst reversible Maßnahmen (Schiene), dann ggf. Einschleifen oder Zahnersatz-/kieferorthopädische Eingriffe.

Schmerzmanagement: Multimodale Konzepte bei chronischen Verläufen.

Fazit und ausblick


Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) stellt ein facettenreiches Krankheitsbild dar, das nicht nur die zahnärztliche Welt betrifft. Dank moderner diagnostischer Verfahren (DC/TMD), klarer Leitlinien und der zunehmenden interdisziplinären Vernetzung können wir Patienten heute wesentlich zielgerichteter behandeln. Entscheidend ist, die multifaktorielle Genese zu erkennen und Therapiepläne individuell zu gestalten.

Mit einer Kombination aus reversiblen zahnärztlichen Maßnahmen (z. B. Schienentherapie), physiotherapeutischen und psychosozialen Methoden ist es in den meisten Fällen möglich, die Schmerzen und Funktionsstörungen nachhaltig zu reduzieren oder sogar zu beseitigen.

Literatur- und Quellenempfehlungen

Literatur- und Quellen-empfehlungen


Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD), Dworkin & LeResche, J Craniomandib Disord (Erstveröffentlichung), aktuell weiterentwickelt von der RDC/TMD-Arbeitsgruppe.

DGPro (Deutsche Gesellschaft für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien e.V.): Leitlinien zur zahnärztlichen Funktionsdiagnostik und -therapie.

Bumann A., Lotzmann U.: Funktionsdiagnostik und Therapie von Kiefergelenkserkrankungen. Quintessenz-Verlag.

Türp J.C., Schindler H.J. (Hrsg.): Zahnärztliche Funktionsdiagnostik und -therapie: Grundlagen, Diagnostik, Therapieplanung. Thieme-Verlag

Okeson J.: Management of Temporomandibular Disorders and Occlusion. Mosby.

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